Die Figur des Verbotsirrtums war eine verbreitete Verteidigungsstrategie in Verfahren zum Komplex der NS-„Euthanasie“. Verbotsirrtum bedeutet: Zum Zeitpunkt seiner Handlung konnte der Angeklagte nicht übersehen, dass sie unrechtmäßig war. Sie war unrechtmäßig, das heißt, sie verstieß gegen geltendes Recht, aber er hat sich in dieser Frage getäuscht. Akzeptiert ein Gericht diese Einlassung, fällt das strafmindernd ins Gewicht. Kommt das Gericht darüber hinaus zu dem Schluss, dass der Verbotsirrtum unvermeidbar, das heißt auch bei äußerster Anspannung aller geistig-sittlichen Fähigkeiten nicht abzuwenden war, ist das ein Strafausschließungsgrund.

Mit dem Argument des Verbotsirrtums wird angesetzt bei der Frage, wie ein Tatbeitrag zu werten ist. Es wird nicht behauptet, das Handeln des Angeklagten sei korrekt gewesen und er müsse deswegen straffrei ausgehen.

Juristischer Hebel für das Reklamieren des Verbotsirrtums im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen war ein höchstrichterlichen Urteil vom Dezember 1960: „Zum Irrtum des Arztes über Recht und Ausmaß der Aktion Hitlers zur ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens’.“ (NJW 6/61, 276ff). Revidiert wurde das Urteil gegen Walter Schultze, Leiter der Gesundheitsabteilung im bayrischen Innenministerium.

Damit der Verbotsirrtum denkbar erscheinen konnte, wurde seitens der Verteidigung in diesen Fällen die Mordpraxis in den Tötungsanstalten der „Aktion T4“ möglichst nah an die Euthanasiediskussionen der Vorkriegszeit herangerückt. Der Eindruck sollte entstehen, als habe der Angeklagte das eine als Umsetzung des anderen begreifen müssen.

Bekanntlich hat die Diskussion über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bereits mit der gleichnamigen Schrift von Karl Binding und Alfred Hoche aus dem Jahr 1920 Fahrt aufgenommen. Das Vorgehen gegen Kranke und Behinderte im Nationalsozialismus konnte sich auf das Vokabular, auf bestimmte Argumentationsfiguren, vor allem aber auf die Akzeptanz einer solchen Erwägung stützen.

Das Tötungsprogramm der Nationalsozialisten ab 1940 ging weit über die zuvor diskutierten Konzepte hinaus, aber in diesen Diskussionen war jenseits der NS-Ideologie Legitimität erzeugt worden für die nicht eingewilligte Tötung bestimmter Menschen, insbesondere von Menschen, die in Anstalten lebten.

Die Gerichte, die nach dem Krieg den Angeklagten einen Verbotsirrtum zubilligten, erklärten damit nicht die NS-„Euthanasie“ zu einer Art Gnadentodpraxis, im Gegenteil, sie stellten unzweifelhaft fest: NS-„Euthanasie“ war Mord. Aber sie erkannten bei den verschiedenen Angeklagten auf einen Schuldausschließungsgrund, eben den Irrtum über das Verbotensein der Handlung. So ließ sich die Ambivalenz, die die Euthanasie mindestens seit Binding und Hoche umgibt, zugunsten der Tatbeteiligten an den NS-Verbrechen mobilisieren.

Der Hinweis auf die Vorkriegsdiskussionen und die Weise wie Tötungshandlungen darin konzipiert wurden, war nicht falsch. Allerdings musste man zum einen die Augen vor der Realität der NS-„Euthanasie“ verschließen, um behaupten zu können, sie sei in dieser Weise verwechselbar gewesen. Zum anderen aber ignorierte das Argument des Verbotsirrtums, dass den Tatbeteiligten durchweg klar war, wie sehr nazistische Vernichtungspolitik alle Barrieren durchbrach und Hemmungen überwand, um das Nie-Dagewesene in die Welt zu setzen.

Der Prozess vor dem Landgericht Frankfurt 1966/67

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt erhob am 15. Januar 1965 Anklage gegen die T4-Ärzte Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke, Kurt Borm und Klaus Endruweit. Borm war seit Dezember 1940 in der Tötungsanstalt Sonnenstein tätig gewesen (und freundete sich dort mit Endruweit an). Im März 1941 übernahm er die Vertretung von Bunke in der Tötungsanstalt Bernburg. Borms Verfahren wurde abgetrennt, so dass die Hauptverhandlung am 3. Oktober 1966 gegen Ullrich, Bunke und Endruweit eröffnet wurde.

Das Urteil des Vorsitzenden Landgerichtsdirektors Zoebe im Mai 1967 lautete: Freispruch wegen des fehlenden Bewusstseins der Rechtswidrigkeit (unvermeidbarer Verbotsirrtum).

Die Verteidigung hatte die drei Ärzte als Personen gezeichnet, die zur Tatzeit einen beschränkten Horizont hatten: jung, unerfahren, uninformiert, schüchtern. In Berlin seien sie von einer Autorität nur knapp instruiert worden, vor Ort nur am Vorgesetzten orientiert gewesen.

Mit der behaupteten Uninformiertheit und Unkenntnis wurden verknüpft die sozialen, politischen und diskursiven Umstände, unter denen die Angeklagten ihren Tatbeitrag leisteten: Bei der „Aktion“ habe es sich um eine staatliche Maßnahme gehandelt, medizinisch-psychiatrische Kapazitäten hätten die Leitung inne gehabt, die Justiz habe Kenntnis von den Vorgängen gehabt, sei aber nicht eingeschritten.

Das Hitlersche Ermächtigungsschreiben, dem von keinem Nachkriegsgericht Gesetzeskraft zu erkannt wurde, spielte gleichwohl eine wichtige Rolle in dieser Argumentation, denn es genügte zu behaupten, dass die Angeklagten auf Basis ihres Informationsstands annehmen durften, dass dem Schreiben der Rang eines Gesetzes zukam.

Die gesamte Argumentation hätte in diesem Verfahren gleichwohl zusammenbrechen müssen. Die Tötungsärzte in den Anstalten waren in eine Fülle von Geheimhaltungsmaßnahmen, von Maßnahmen der Täuschung und Tarnung einbezogen, die unmittelbar deutlich machten, wie sehr die Beteiligten von der Illegitimität ihres Handelns überzeugt waren. Die Ärzte unterschrieben Schriftstücke mit falschem Namen, die Angehörigen wurden über Todesursache und Sterbezeitpunkt belogen (die Kostenträger in gleicher Weise), die Opfer wurden bis zum letzten Moment getäuscht.

Gleichwohl haben sich die Verteidiger mit ihrer Strategie in diesem Prozess durchgesetzt. Allerdings wurde das Urteil Jahre später von einem Revisionsgericht aufgehoben. Bis es zur Neuverhandlung kam, haben die Angeklagten allerdings noch zwanzig ruhige Jahre verlebt.

Trotz der juristisch skandalösen Beweiswürdigung samt Freispruch 1967, muss aus historischer Perspektive unbedingt zur Kenntnis genommen werden, dass die Strategie des Verbotsirrtums von Merkmalen der NS-Krankenmorde profitiert, die sie von anderen NS-Verbrechen abheben: Etwa die Geschichte der Euthanasiediskussion seit 1920, die Unterstützung der Taten durch Teile der Fachelite, die Einbindung des Justizapparats.

Nach 1945 folgte eine völlig unzureichende Anerkennungs- und Entschädigungspraxis gegenüber Opfern der NS-„Euthanasie“ und der Zwangssterilisationspraxis. All das sind Herausforderungen auch in der Gedenkstättenarbeit, zum Beispiel wenn man mit Besucherinnen und Besuchern über die Frage von Schuld und Verantwortung diskutiert und aufgefordert ist, ein Bild der Täter vor Ort zu entwerfen.

Tondokumente

Wie eben dargelegt, nutzte die Verteidigung der drei Tötungsärzte die Vorkriegsdebatten über Euthanasie. Indem sie darauf abstellte, dass maßgebliche Beteiligte der NS-„Euthanasie“ selbst nicht bemerken konnten, dass sie sich an einen Massenmord beteiligten, wird zunehmend unklar, für wen und unter welchen Umständen sich die uneingewilligte Tötung von Anstaltspatienten eigentlich unzweifelhaft als Mord darstellen würde.

Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist ein weiterer Vorgang. Die Verteidiger überlegten offensichtlich, wie sie plausibler machen konnten, dass die Angeklagten das Unerlaubte ihres Handelns nicht zu erkennen vermochten. Die Antwort, auf die sie verfielen: Man wird die Angeklagten dann freisprechen, wenn das Unerlaubte eines solchen Handelns auch hier und heute nicht erkannt werden kann. Im Gerichtssaal kam es 1967 zu einer Apologetik der uneingewilligten Tötung von Anstaltspatienten und -patientinnen. Davon wissen wir nur, weil die Plädoyers der Verteidiger als Tondokumente überliefert sind.