Der Text „Was wir sehen“ beschäftigt sich mit einem Foto, dass eine zugewachsene Hangterrasse auf dem Gelände hinter dem ehemaligen Kalmenhof-Krankenhaus zeigt. Auf dem Foto von 1983 sind keine Gräber zu sehen, obwohl sie sich dort befinden. Es ist auch keine Friedhofsstruktur zu erkennen, obwohl einst Grabnummernkreuze an dieser Stelle den Friedhof sichtbar machten. Da der Friedhof nicht von allein verschwand, zeigt das Foto immerhin den Status Quo eines verschwundenen Friedhofs und damit in gewisser Weise ein Resultat des dominierenden Nicht-wissen-wollens der 1950er, 60er und 70er Jahre.
Der Text endet mit der Erwartung, dass über das Verschwinden des Friedhofs das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Am 14. und 15. Juli 2020 fanden Grabungen auf dem Hang hinter dem Kalmenhof-Krankenhaus statt. Tätig waren Mitarbeiter des „Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.“, die behördliche Verantwortung lag beim Hessischen Landesamt für Denkmalpflege. Ein LWV-Angestellter verkündete am 16. Juli in einer improvisierten Pressekonferenz vor Ort die Ergebnisse: Im Bereich der „Verdachtsflächen“ oberhalb des seit 1987 als Kriegsgräberstätte ausgewiesenen Hangbereichs seien keine Gräber gefunden worden. Ein schriftliches Grabungsprotokoll steht bis heute aus, daher können die Grabungen auch noch nicht abschließend im Kontext der übrigen Quellen zum Friedhof gedeutet werden. Der Ton der Berichterstattung tendierte danach jedoch in die Richtung: Es ist alles zu lange her, die Gräber lassen sich wohl nicht mehr finden. Insofern war die Erwartung, der Nachkriegsgeschichte des Kalmenhof-Friedhofs ließe sich noch ein Kapitel anfügen, möglicherweise zu hoffnungsfroh.
Allerdings ist auch ein negatives Grabungsergebnis ein Ergebnis. Soll nämlich nicht der historisch einmalige Fall angenommen werden, dass die Menschen, die in der Gewalt nationalsozialistischer Akteure starben und von den Tatbeteiligten dem örtlichen Standesamt als Todesfälle gemeldet wurden, tatsächlich gar nicht tot waren, sondern das Kriegsende erlebten und erst viele Jahre später in ihren Heimatgemeinden friedlich entschliefen, dann ist der Verbleib von etwa 350 toten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ungeklärt. Da es eine Vielzahl von Hinweisen und Zeugenaussagen gibt, dass diese Toten auf dem Kalmenhof-Friedhof hinter dem Kalmenhof-Krankenhaus beerdigt bzw. ohne Sarg in Grablöcher geworfen wurden, sind Vermutungen, die Leichen seien an einem gänzlich anderen Ort vergraben oder gar verbrannt worden, substanzlos.
Sollte sich, wenn endlich ein Protokoll der jüngsten Grabungen vorgelegt wird, tatsächlich bewahrheiten, dass sich nirgends weitere Grabstellen finden ließen, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurde auf dem in Frage kommenden Terrain an den falschen Stellen gesucht oder aber die Toten des Kalmenhof-Friedhofs sind verschwunden und ihre Gräber gibt es nicht mehr. Über die Gründe ließen sich in beiden Fällen weitere Schlüsse ziehen.