Ernst Klee hat nicht nur Standardwerke zu NS-„Euthanasie“ publiziert, sondern ist auch der Autor zahlreicher TV-Filme zu unterschiedlichen Themen. Auf der Tagung anlässlich seines zweiten Todestages in Frankfurt am Main wurde auch „Ernst Klee als Dokumentarfilmer“ vorgestellt. Die anschließende Diskussion führte zu weiteren Fragen.
1. Das Bild des missgebildeten oder asymmetrischen Körpers, des im Schützengraben oder auf der Autobahn in Mitleidenschaft gezogenen Körpers, des disabled body wurde historisch mindestens in drei verschiedenen Kontexten gezeigt: Zur Anklage jener Zustände, denen der Körper ausgesetzt war, das heißt, um rückzuverweisen auf die Gewalt, die auf ihn einwirkte. Das kann eine physische, soziale, pharmakologische oder chemische Gewalt sein. Nennen wir das die Klee-Intention.
Dann zur Ausstellung, bzw. Herstellung eines zu verachtenden Körpers, der als Gefahr für Wohlergehen und Gesundheit einer Gemeinschaft in Erscheinung treten soll, die sich nicht zuletzt in dieser Opposition findet. Aversionen sollen geweckt werden, an die wiederum sozialpolitische Konsequenzen angehängt werden können. Die völkische oder nazistische Intention.
Körperbilder werden aber – und das ist die dritte Intention – seit jeher zur Hervorbringung starker Affekte egal in welcher Richtung gezeigt. Die Weise der Darstellung (der Aus- und Schaustellung) kann eine durchaus ambivalente Rezeption zur Folge haben: Gefühle des Mitleids, des Ekels, des Kitzels. Nennen wir das die Verkaufs- oder Quotenintention. Sie braucht die Sensation, den Reiz des Augensinns. Die historische Kette reicht von den Jahrmärkten der frühen Neuzeit über die Sideshows und circensischen Darbietungen bis zu nachmittäglichen TV-Formaten unserer Tage.
Lassen sich die drei Funktionen sauber voneinander trennen? Wohl kaum. Sowohl die Anklage der Zustände im Wege des herumgezeigten Körperbilds wie auch die Klage über eine Bedrohung, die von ihm angeblich ausgeht, verliert Zuschauer an den Sensationalismus. Das angeleitete Sehen überschätzt oftmals die Kraft der Anleitung. Nur mit einer begrenzten Sicherheit verfügt derjenige, der die Bilder gemäß seiner Intention zeigt, über die Rezeption. Gerade das affektreiche Bild ist nicht vollständig kontrollierbar. Die Propagandaabteilungen des NS versuchten diese Mehrdeutigkeit durch explizite Betextung und Untertitelung beizukommen. Allerdings kann auch das schief gehen, denn mitunter zerstörte die textuell offenbar werdende Intention den Propagandaeffekt, der bekanntlich nachhaltiger ist, wenn man ihn nicht bemerkt. Zudem unterliegen die Zeige- und Rezeptionsweisen einem gewissen historischen Wandel. Nicht unter allen Umständen bieten sich für jede dieser Intentionen die gleichen Möglichkeiten.
Wie stark sind also die Bilder und ihre Rezeptionsweise durch den medialen, politischen und sozialen Kontext des Zeigens bestimmt? Andersherum: Wie stark sind die jeweilige Bilder durch ihre Machart gegen die Verwendung im Sinne einer inhaltlich entgegengesetzten Intentionen geschützt? Oder wie wenig? Kann Klee erfolgreich Nazibilder zeigen, um den Missbrauch der abgebildeten Menschen anzuklagen und die Propagandaintention zu denunzieren? Das ist eine der zentralen Fragen, die sich angesichts der Verwendung von im Nazi-Kontext erzeugten Fotografien und Bildsequenzen bei Klee stellt.
2. Die häufig gut komponierten und inszenierten Bilder/Fotografien der Nazis lassen sich analysieren. „Bilder lassen sich qua Vorführung analysieren, aber nicht zerstören – und jede Dokumentation manifestiert ihre Präsenz, zumal in einer Kultur, die das Visuelle so außerordentlich präferiert.“ (Harald Welzer: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 168) Welzer bezieht sich auf die euphorisierenden Bilder der Menschenmengen, der Aufmärsche, Lichtinstallationen und Reden. In der Nachkriegszeit wurden die Speerschen Inszenierungen gern und häufig verwendeten, das heißt, die Erinnerung an das „Dritte Reich“ wurde von den Nazis selbst in Form gebracht. Aber gilt das gleiche für die Bilder der Denunziation und der Hetze, gilt es auch für die Bilder des „Erbkranken“? Wie steht die Herkunft dieser Bilder zur Absicht, die eugenischen Phantasmata zu denunzieren und zu delegitimieren? Lässt sich die mit den Bildern einhergehende praktische und soziale Gewalt sichtbar machen? Oder müssen die Bilder des „Erbkranken“ verschwinden und mit ihnen die Analyse dieser Bilder? Konstruktiv gewendet: Welche Form muss die Bildanalyse gewinnen, um ihren Gegenstand zu erhellen und dem Bild seine denunziatorische Macht auszutreiben, ohne dass im Rücken der intendierten Aufklärung die elende Angst, der barocke Schauder fortbesteht?
3. Die Gesichter und Körper der „Idioten und Schwachsinnigen“ sind sinnlich fassbare Manifestationen immer schon vorhandener Typisierungen. Was man dann also sieht – einigermaßen geschult, aber auch ohne Indoktrination – sind nicht Abbilder von empirischen Personen, sondern Repräsentanten einer politisch-biologischen Spezies, die aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen die Wissenschaft aufgerufen ist, bzw. sich die Eugenik müht.
Die erste Aufgabe der Kritik wäre dafür zu sorgen, dass man mehr und anderes sieht als die Repräsentation eines Typus, dass man eine empirische Person sieht. Das heißt, nicht nur jene Zeichen zu sehen, die in der Summe das Gesamtbild des Typus ergeben, sondern Details zu sehen, alles zu sehen.
Auf der zweiten Ebene würde es darum gehen, das Bild selbst als einem Kanon zugehörig zu zeigen. Damit der abgebildete Körper, wie intendiert, als Exemplar einer (zu fürchtenden) Kategorie erkannt werden kann, muss das Bild formale Aspekte erfüllen. Nur dann wird es dienstbar sein. Also müssen Bildserien betrachtet werden, müssen Figur, Hintergrund, Ausschnitt, Farbgebung und Interaktion thematisch werden.
Auf der dritten Ebene muss die affektive Kraft des Bildes sprechbar werden –, seine gegenwärtige affektive Kraft. Die sich immun wähnende Perspektive der Nachgeborenen, (Nachgeborene, die sich kritisch über die Nazipropaganda beugen) hat einen Riss. Durch diesen Riss hindurch korrespondieren die Affekte: Das Körperbild und das Unbewusste des Betrachters halten regen Austausch. Nicht alles, was da geschieht, lässt sich erfassen und ist der Introspektion zugänglich. Dennoch ist es nicht überflüssig hier zu verharren, denn der Körper im Bild geht mich an. Trotz des selbst erteiltem Analyseauftrag sehe ich durch das Bild hindurch auf diesen Körper. Die Affektion des Körperwesens, das ich bin, ist unvermeidlich. Wie also kommt mir diese Gestalt, die ich sehe, vor? (Nocheinmal: Zu durchschauen, dass die Gestalt etwas mit mir machen soll, dass ich mit dem Bild manipuliert werden soll, absorbiert nicht jede Wirkung.)
4. Dieser dreifache Durchgang durch das Bild sollte etwas bewirken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Betrachter und Bild. Mit Hilfe der Untersuchung der Typisierung kann ich die Intention nicht nur allgemein als nazipropagandistisch benennen, sondern bildbezogen erkennen. Das Verständnis des formalen Aufbaus hilft vom abgebildeten Körper wegzusehen und dafür mehr der Abbildungsarbeit gewahr zu werden. Die dritte Arbeitsschritt geht den umgekehrten Weg: Bei allem guten Willen und bei Aufbietung einer gehörigen Portion analytischen Scharfsinns wird die affektive Kraft des Bildes nicht vollständig kontrollierbar sein. Nur wenn man dieser Wirkung nicht leugnet, sondern ihr versucht Worte zu geben, entgeht man dem Selbstmissverständnis. Es besteht darin, dass das kritische Subjekt, das Subjekt, das die Naziintention aufdecken und denunzieren will, von dieser per se nicht erreicht werden kann.