In der Militärmedizin werden die Dinge direkter benannt als in der gewöhnlichen Medizin. Die kriegsführende oder kriegsvorbereitende Nation stellt klare Anforderungen an ihr Personal, denen nicht nachzukommen allenfalls temporär geduldet werden kann. Ein Patient soll rasch wieder hergestellt werden. Sich von der Front zu drücken, kann noch weniger geduldet werden als sich Lohnarbeitsverhältnissen zu entziehen. „Sich drücken wollen“ – Militärpsychiatern sind ihre Patienten per se verdächtig. Leidenszustände und Symptome werden als eine Art Deckung aufgefasst, um sich dem Kampf für Volk und Vaterland zu entziehen.

Die Militärärztliche Gesellschaft München trat am 2. November 1937 zu einer Sitzung zusammen und diskutierte das „Psychopathenproblem“ mit seinen Auswirkungen auf die Niederlage des Deutschen Heeres 1918. Es galt zu differenzieren: „Im Gegensatz zu den ‚Versagern’, womit die ‚Nervösen’, ‚Zwangskranken’ und ‚Weichlinge’ gemeint waren, galten die ‚Störer’, die man auch als den ‚linken Flügel der Psychopathen’ bezeichnete, als ‚asozial’ und ‚kriminell’.“ (Henning Tümmers: Fern der Berliner Zentrale. Tübinger Ärzte und ihre Handlungsspielräume im Umgang mit „Psychopathen“. In: Babette Quinkert/Philipp Rauh/Ulrike Winkler (Hg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950, Göttingen 2010, S. 104-128, hier S. 104. Tümmers zitiert den Bericht über die Tagung der Militärärztlichen Gesellschaft München am 2.11.1937, in: Der Deutsche Militärarzt 3 (1938), S. 33ff.)

Aus den Militärärzten spricht der Prototyp des soldatischen Manns. Hervor tritt die um soziale Rücksichten gekürzte Perspektive des Leistungsbürger. Ohne terminologische Umschweife wurden von den Militärärzten zwei Kernzuschreibungen gegenüber den psychisch Kranken zu Papier gebracht: Versager oder Störer, nicht können oder nicht wollen, schlechte Substanz oder böser Wille.

Die Tagungsteilnehmer mussten an diesem Tag in München keine zivilen Etikette wahren, sie mussten keine Rücksichten nehmen auf die Kirche oder die Öffentlichkeit. Ihre professionelle Sichtweise kam mit dem verbreiteten Ressentiment zur Deckung. Letzteres durften sie als wissenschaftliche Auffassung präsentieren, im Medium der Wissenschaft ausbuchstabieren.

Im Jahr 1937 diskutierten Militärärzte für das, was sie als „Psychopathenproblem“ ausgemacht hatten, nazistische Lösungen. Der im Ressentiment strukturell enthaltene Zug zum kurzen Prozess durfte verbalisiert und konzeptionalisiert werden: „Zukünftig sollten ‚Psychopathen’ erfasst, registriert, isoliert, an der Front gehalten, in Konzentrationslager eingewiesen oder sogar ermordet werden.“ (Tümmers, S. 105 mit Verweis auf den Bericht, S. 35)

Die Militärärzte trafen Vorkehrungen gegenüber dem sich in jedem Krieg neu stellenden Problem der leiblichen und seelischen Verletzbarkeit des Menschen. Auch die mächtigste ideologische Mobilisierung droht nach ein paar Wochen in Dreck, Blut und Erbrochenem ihren Schwung zu verlieren. Und also muss der Soldat im Menschen gegen dessen kreatürliche Reaktion befestigt werden. Schafft der Soldat nicht, sich zu behaupten, übernehmen das die Militärärzte. Nicht kontrollierbare psychische Symptome sind so wenig zu tolerieren, wie Menschen, die nicht gegen ihre temporäre Dysfunktionalität ankämpfen. Dass die Militärmediziner/-psychiater kaum über medizinische Mittel verfügten, um den Nervösen, Zwangskranken und Weichlinge beizustehen, teilten sie mit ihren zivilen Kollegen (weitgehende Ohnmacht angesichts der psychiatrischen Erkrankungen). Im Unterschied zu diesen war es ihnen erlaubt, ohne Umschweife die Abwesenheit von organischen Veränderungen oder physischen Verletzungen gegen den Kranken zu wenden und als Ausdruck seiner konstitutiven Schwäche, seiner Boshaftigkeit oder Feigheit, seiner Minderwertigkeit zu deuten. Letztlich aber hat sich diese Sichtweise in allen Bereichen durchgesetzt, was nicht wundert, denn für den Krieg wurde die ganze Gesellschaft mobilisiert. (Im Übrigen ist auch jede Krise ein kleiner Krieg.) Auch die Unterscheidung zwischen dem Versager und dem Störer verlor ihre wichtige Rolle. Die nazistische Vernichtungspolitik richtete sich nach und nach sowohl gegen Kranke, denen abgesprochen wurde, eine Person mit eigenem Willen zu sein wie auch gegen Personen, denen unterstellt wurde, böse Absichten zu haben. Letztere nannte die nazistische Terminologie „Gemeinschaftsfremde“.