Menschen einem Verfahren zu unterziehen, an dessen Ende die Staatsgewalt sie auf den OP-Tisch zwingt und einem chirurgischen Eingriff unterzieht, ist ein doppelter Gewaltakt, denn mit dem Schnitt in den Unterleib geht ein Unwerturteil einher. Der Eingriff war nicht nur möglich, er wurde auch in den Stand der Rechtmäßigkeit erhoben, er galt als gerechtfertigt.
Befreiung hätte daher dreierlei bedeutet: Den Eingriff (wenn medizinisch möglich) rückgängig zu machen, materielle Entschädigung zu gewähren und das zuvor verhängte Werturteil öffentlich zu revidieren.
Das Stigma „erbkrank“ wurde nach dem Krieg jedoch nicht aufgehoben. Zwangssterilisierte wurden nicht als Opfer des nationalsozialistischen Regimes anerkannt, sie wurden nicht rehabilitiert, sie erhielten keine Entschädigung. Daran lässt sich der Fortbestand der Normen ablesen, die den etwa 380 000 Urteilen der Erbgesundheitsgerichte zugrunde lagen. Und das galt auch in Hinblick auf die Akteure: Die ärztlichen Beisitzer der Erbgesundheitsgerichte behandelten wieder Patienten, die juristischen sprachen weiter Recht. Von den Chirurgen, die ohne Einwilligung der Patienten die Operationen vorgenommen hatten (in Frankfurt zum Beispiel im Heilig-Geist Hospital und im Schifferkrankenhaus), sprach überhaupt niemand. Selten nur wurde der Leiter eines Gesundheitsamt, also Personen aus dem Kreis derer, die die Verfahren federführend betrieben hatten, ausgetauscht. Die neue demokratische Ordnung hat die Zwangssterilisationspraxis nicht weitergeführt, aber sie hat die Urteile der alten Ordnung in jeder Hinsicht bestehen lassen.
Sich der Fortpflanzungsfähigkeit beraubt zu sehen, ist das Eine. Das Andere ist, den Begründungen der Eugeniker nachzulauschen und sie in der Nachkriegsgesellschaft im Großen und Ganzen bestätigt zu sehen. Wie sich unter diesen Umständen der Minderwertigkeitsgefühle, des Selbsthasses erwehren? Wenn niemand beschuldigt, keiner unter Anklage gestellt wird – sich also offenkundig niemand schuldig gemacht hat – und das zugrundeliegende Werturteil nicht revidiert wird, muss es wohl am Betreffenden selbst liegen. Blaming the victim.
Es dauerte 40 Jahre bis eine Selbstvertretung der Zwangssterilisierten die politische Bühne betrat. Als Opfergruppe sichtbar zu werden hieß zugleich, den Selbstfreispruch der deutschen Medizin zu skandalisieren. Öffentlich zu sprechen, war eine Bedingung der Möglichkeit, die Scham zu überwinden.
Die Zeit, die es dauerte, bis dies möglich wurde, sei verflucht!