Im Gespräch mit Michael Becker wurde am 19. Januar in einer Online-Veranstaltung weiteres Material aus dem Buch Hadamar von innen. Überlebendenzeugnisse und Angehörigenberichte erkundet. Zwei Zeugnisse wurden vorgestellt, darunter die Aussage der Überlebenden Elisabeth Schöndorf, die während der sogenannten zweiten Mordphase, in diesem Fall in der Zeit von November 1944 bis März 1945 in Hadamar war.

Elisabeth Schöndorf, am 20. November 1922 in Habkirchen geboren, kam früh in Kontakt mit Fürsorgeerziehungsbehörden. Obgleich sie vermutlich weder krank noch behindert war, hing ihr Leben, als sie am 20. Juni 1944 in die Anstalt Eichberg aufgenommen wurde, an einem dünnen Faden. Während der fünf Monate, die sie dort war, starben um sie herum etwa 270 Patienten und Patientinnen. Am 16. November 1944, vier Tage vor ihrem 22. Geburtstag, wurde sie nach Hadamar gebracht.

Nur einmal vernommen, und zudem von wenig wohlwollenden Beamten: Das Zeugnis von Elisabeth Schöndorf ist sprachlich dominiert vom Protokollstil und gerahmt von einem Denunziationsschreiben. Trotzdem bietet es einen der wenigen Einblicke in die Räume am Ende des östlichen Gebäudeflügels der Anstalt Hadamar zur Tatzeit. Hier wurden Ende 1944 vor allem polnische und sowjetische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen umgebracht.

Protokoll der Vernehmung vom 27. Januar 1947. Gelesen von Verena Specht.

„Vorgeführt erscheint die Landwirtschaftsgehilfin Elisabeth Schöndorf“ – so beginnt dieser Text. Elisabeth Schöndorf war in Breitenau nahe Kassel interniert, als die Frankfurter Staatsanwaltschaft im Januar 1947 die Behörden vor Ort bat, sie zu ihren Wahrnehmungen in Hadamar zu befragen. Die Polizeibeamten der Gendamerie-Station Guxhagen behandelten Schöndorf dabei wie eine Beschuldigte. In einem Begleitschreiben zum Vernehmungsprotokoll wurde sie massiv denunziert: schwachsinnig, sexuell haltlos, gemütsarm. Wegen Landstreicherei sei sie 1946 in Marburg zu Arbeitshaus verurteilt worden. Eine eigenartige Mitteilung, waren doch im ersten Nachkriegsjahr zahllose Menschen ohne Obdach und ohne Zuhause. Wer einer Terrorstätte des NS-Regimes entronnen war, erhielt andernorts als Displaced Person zumindest rudimentäre Unterstützung.

Gegen Elisabeth Schöndorf sprach in den Augen der Guxhagener Beamten vor allem, dass sie 1943 zwangssterilisiert worden war. Die entsprechenden Akten lagen den Beamten vor. Im Bestreben, ihre abwertenden Kommentare zu begründen, zitierten sie in ihrem Begleitschreiben aus den Akten. Dabei geriet ihnen Syntax und Rechtschreibung durcheinander und ihr Versuch, sich über die vermeintlich Schwachsinnige zu erheben, misslang gründlich.

Die Zeugin hätte eine wichtige Zeugin sein können: Sie konnte aus eigener Wahrnehmung berichten, wie am Ende des Gangs in den Stationen des östl. Gebäudeflügel (Station Ib und IIa) kleine Zimmer als „Sterbezimmer“ genutzt wurden – und wie die Verabreichung überdosierter Medikamente im Einzelnen ablief.

Dabei bewegen sich ihre Schilderungen im Bild des Lagers und sie spricht explizit vom Konzentrationslager. Vielleicht erhoffte sie so eher auf eine Anerkennung dessen, was sie durchgemacht hatte. Vielleicht erschien dies ihr angesichts der dort herrschenden Verhältnisse einfach eine angemessene Bezeichnung: Arbeiten unter erbärmlichen Bedingungen in unmittelbarer Nähe des Vernichtungsprozesses. Dreck, Gewalt und ständige Todesdrohung bei misserabler Versorgung.

„Ich sah nun desöfteren tote Männer, Frauen und kleine Kinder (Säuglinge) herumliegen“, heißt es. Es waren die Kinder polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiterinnen, die Elisabeth Schöndorf sah. Ansonsten kamen in diesem Zeitraum Ende 1944, Anfang 1945 keine Transporte mit kleinen Kinder nach Hadamar. Und tatsächlich waren die Pfleger Ruoff und Willig die Mörder dieser Menschen, anders als zuvor üblich. Denn ansonsten „arbeiteten“ die beiden auf der Männerstation, während auf den Frauenstationen Frauen von Frauen umgebracht wurden.

Das Zeugnis von Elisabeth Schöndorf erzählt von der Tat – und ebenso vom Umgang mit einer Frau, die davongekommen war, die aber vermutlich niemals eine Überlebende genannt wurde.