Wilhelm Friedrich kennt sich sehr gut aus mit der Justiz, denn er ist selbst Jurist – und er hat etwas zu erzählen. Zudem ist seine Geschichte eine, die gut ausgeht, was wesentlich sein Verdienst ist. Wilhelm Friedrich ist der Vormund seines kranken Onkels, Heinrich Friedrich.

Dr. Wilhelm Friedrich: Schreiben an die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main v. 10.11.1946. Es liest Günther Henne.

Wilhelm Friedrich beschreibt einen typischen Vorgang im Rahmen der „Aktion T4“. Sein Vater befand sich in der Anstalt Goddelau, hatte die Diagnose „Schizophrenie“ und war über 70 Jahre alt. Nach der Erfassung per „Meldebogen“ wurde er von den sogenannten Gutachtern in die Gruppe der zu ermordenden Anstaltspatienten eingeordnet. Ihnen genügte, dass er bereits geraume Zeit in Anstaltspflege war und keine Heilungsaussichten bestanden. Mit anderen Selektierten wurde er Ende April 1941 von Goddelau in eine „Zwischenanstalt“ Hadamars verlegt. Die Mitteilung, die Verlegung geschehe auf Anordnung des „Reichsverteidigungskommissars“, sei also eine irgendwie kriegsnotwendige Maßnahme, sollte die Angehörige eingeschüchtern. Um Hadamar herum gab es insgesamt neun Anstalten mit der Funktion einer „Zwischenanstalt“. Weilmünster war die größte, von hier wurden am meisten Patienten und Patientinnen in die Gaskammer nach Hadamar verlegt.

Wilhelm Friedrich hatte wie viele andere auch davon gehört, dass Patienten in deutschen Anstalten ermordet werden – die Gerüchte waren im Frühjahr 1941 zahlreich und mitunter sehr detailliert, so wurde regelmäßig auch davon gesprochen, dass die Leichname der Opfer verbrannt wurden und die Angehörige allenfalls eine Urne erhielten. Ein Umstand, der mit der sehr gut sichtbaren Rauchwolke über Hadamar zu tun hatte. Möglicherweise hatte Friedrich aufgrund seiner beruflichen Position auch zusätzliche Informationen erlangt. Jedenfalls fuhr er nach der Verlegung seines Onkels nach Weilmünster genau dorthin, wissend was die Verlegung bedeutet, und konfrontierte den Verantwortlichen.

Der weitere Verlauf der Geschichte klingt zunächst fast unglaublich. Nicht nur, weil es die Geschichte einer gelingenden, einer rettenden Intervention ist, sondern auch, weil Friedrich sein Gegenüber argumentativ in die Enge treibt. Waren solche Interventionen von Angehörigen selten, so ihr Gelingen noch seltener.

Die NS-„Euthanasie“ wurde nicht – wie zahlreiche andere Gewaltmaßnahmen des NS-Regimes – per Gesetz oder Verordnung formal legalisiert, sondern sie war nach den Buchstaben des bestehenden Rechts illegal. Hier setzte Wilhelm Friedrich an. Erfolg hatte er, weil es ihm gelang, sein Gegenüber in eine juristische Diskussion zu verwickeln. Er vermochte es zu verhindern, dass das Gespräch auf eine politische Ebene wechselte, auf der sein Gegenüber die völkischen Prämissen des NS-Staates hätte geltend machen können (ihnen zufolge musste das formalisierte Recht keineswegs das letzte Wort haben). Für den Verantwortlichen in Weilmünster ging der Schlagabtausch mit einem Juristen, der gewillt war, alle denkbaren Argumente hinsichtlich der Unrechtmäßigkeit des Geschehens auch aufzubieten, schlecht aus.

Friedrich konnte so nur agieren, weil er sich als Jurist im Laufe seines Lebens ein gewisses Selbstbewusstsein angeeignet hatte und weil er bereit war, das Risiko der Konfrontation einzugehen. Seine Ausgangsposition für ein solches Gespräch – Bildungshorizont, Selbstsicherheit, Fachkenntnis – war gut, gleichwohl gab es Tausende von Juristen mit ähnlich guten Voraussetzungen, die nicht auf die Idee kamen, in einer „Zwischenanstalt“ vorstellig zu werden und die Rückverlegung des Angehörigen oder des Mündels zu fordern.

Die Debatte zwischen Friedrich und dem Verantwortlichen in Weilmünster hat sich auf ähnliche Weise in zahlreichen Nachkriegsprozessen wiederholt. Nur hatte dann ein Staatsanwalt die Rolle von Friedrich und der Arzt war angeklagt. Auch in diesen Situationen wurde seitens der Tatbeteiligten vielfach versucht, die Verfahrensabläufe der NS-„Euthanasie“ als im Prinzip legalisierte darzustellen – immer mit Verweis auf das Hitlersche Ermächtigungsschreiben vom Herbst 1939. Dann mussten sich die Angeklagten regelmäßig sagen lassen, was für Juristen evident und auch für Laien unmittelbar einsichtig ist: Gesetze müssen eine bestimmte Form haben, fünf Zeilen auf privatem Briefpapier genügen nicht. Gesetze können auch nicht geheim sein, denn es gehört zum Wesen des Gesetzes, das es öffentlich ist.

Nicht, dass er dies sehr genau wusste, hebt Wilhelm Friedrich heraus, sondern dass er los ging und es in die Waagschale warf.