1. Die Leichname der im Rahmen der „Aktion T4“ zwischen Januar 1940 und August 1941 in den sechs Tötungsanstalten Grafeneck, Brandenburg/Havel, Hartheim/Linz, Sonnenstein/Pirna, Bernburg und Hadamar ermordeten Anstaltspatienten wurden vor Ort verbrannt. Die Asche wurde zum einen Teil an den Tatorten verscharrt, das ist erwiesen für Hartheim und Pirna.

Wenn die Angehörigen der Ermordeten nach der Benachrichtigung durch den sogenannten Trostbrief von dem Angebot Gebrauch machten und die Urne mit der Asche des Verstorbenen anforderten, wurde von der jeweiligen Tötungsanstalt eine namentlich gekennzeichnete Urne versandt. Da die Asche bei der Kremierung nicht separiert worden war, wurde in die Urne irgendwelche Asche eingefüllt.

In Grafeneck hat man nach dem Krieg 270 Urnen in einem Urnensammelgrab auf dem Areal der Tötungsanstalt aufgefunden.[1] Hier wurde die Asche der Ermordeten in Urnen gefüllt, diese dann aber vor Ort verscharrt.

Neben diesen drei bekannten Umgangsweisen mit den sterblichen Überresten der Ermordeten steht eine vierte Praxis: Ascheurnen wurden, ohne dass Angehörige sie angefordert hätten, an Friedhofsverwaltungen von größeren (nicht unbedingt großen) Städten versandt.

2. Dem Versand der Urnen an städtische Friedhöfe – unangefordert und in größerer Stückzahl – ging eine Unterrichtung des Deutschen Gemeindetags am 3. April 1940 voraus. Die Zusammenkunft von ca. 200 Oberbürgermeistern und kommunalen Spitzenbeamten wurde von Viktor Brack (dem zweithöchsten Funktionär der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4) informiert über das Sterben der Anstaltspatienten und ihre Einäscherung. Städtische Friedhofsämter würden demnächst Urnen zugesandt bekommen, so hieß es, die einige Zeit bereit gehalten und verwahrt werden sollten für eine etwaige Abholung durch Angehörige zu einem späteren Zeitpunkt. Von diesem Treffen liegt ein Protokoll des Plauener Bürgermeisters vor.[2]

Die Urnenversendung wurde also zentral (von Berlin) geplant und initiierte. Aber sie wurde jeweils von den Tötungsanstalten verwaltet, da diese ohnehin mit den Angehörigen in Kontakt traten und auch den Tod des Opfers beurkundeten. Die jeweiligen Büroabteilungen führten, so ist anzunehmen, ein Register analog zu den Krematoriumsbüchern gewöhnlicher Friedhofsverwaltungen, in das sie unter einer Urnennummer die Daten, die sie auf den Deckel der jeweiligen Urne einprägten, sowie Zielort und Versendedatum notierten.

Dies bedeutet auch: Wenn der Tod (aus Tarnungsgründen) von einer anderen Tötungsanstalt beurkundet wurde und man die Patientenakte dorthin schickte, damit der gesamte Schriftverkehr mit den Angehörigen von dort abgewickelt werden konnte, dann wurde auch die Urne von dort verschickt. In diesen Fällen stammte die Asche in der Urne also nicht einmal aus dem Krematoriumsofen, in dem der Leichnam des Opfers verbrannt worden war.

3. Wenn von Hadamar aus Ascheurnen unangefordert an städtische Urnenfriedhöfe geschickt wurden, so wurde von der Büroabteilung unter dem Briefkopf „Polizeibehörde Friedhofsverwaltung, Hadamar-Mönchberg b. Limburg/Lahn, Postfach Hadamar 31“ ein Begleitschreiben mitgeschickt. Es war gerichtet (anders als bei den angeforderten Urnen) an den „Herren Oberbürgermeister Abt. Friedhofsverwaltung“ einer Stadt (überliefert ist ein solches Dokument für Dortmund). Man verwies im Schreiben auf die Besprechung beim Deutschen Gemeindetag und nannte die Daten, die auch auf dem Urnendeckel standen: Name und Geburtsdatum des Opfers, das (regelhaft falsche) Sterbedatum, gefolgt von dem nicht minder falschen, auf den Tag danach datierte Einäscherungsdatum. Zudem nannte man im Falle Hadamars als Einäscherungsort ein fiktives „Krematorium Wiesbaden II“. Von den Friedhofsverwaltungen wurde die Bestätigung der Beisetzung der Urne erbeten: Abtrennen des Vordrucks an einer gepunkteten Linie, ausfüllen und zurücksenden.

4. Für diverse städtische Friedhofsverwaltungen existierten demnach zwei Formen, wie sie mit Urnen aus Tötungsanstalten konfrontiert wurden. Die erste machte keine Mühe: Sie bekamen eine Urne zugesandt, für die bereits eine Anfrage eines Angehörigen existierte oder die alsbald eintraf. Dieser Angehörige hatte sich nach Erhalt des „Trostbriefs“ an die Tötungsanstalt gewandt und wusste, dass die Urne bei der Friedhofsverwaltung seiner Heimatstadt eingehen würde oder eingegangen war. Die Urne wurde daraufhin ungehend privat bestattet.

Im zweiten Fall kamen Urnen, für die sich zunächst niemand interessierte (in Ausnahmefällen kam evtl. verspätet noch eine Anfrage von Angehörigen oder die Friedhofsverwaltungen recherchierten eigenständig nach Verwandten). Diese nachrichtenlosen Urnen waren bei den Friedhofsverwaltungen größerer Städte mutmaßlich der numerisch häufigere Fall.

Es scheint so zu sein, dass die Urnen an städtische Friedhöfe in der (relativen) Nähe der Geburtsorte, bzw. letzten Wohnorte der Opfer geschickt wurden. Dies gilt aber nur eingeschränkt: Die Urne von Nikolaus Engstler, geboren in Beckingen, wurde etwa ins 130 Kilometer entfernte Karlsruhe geschickt.

Die Urnen wurden bei den Friedhöfen eine gewisse Zeit aufbewahrt, um dann oftmals en bloc in Reihen- oder Urnensammelgräber beigesetzt zu werden. Manchmal lagerten sie auch bis Kriegsende und länger in irgendwelchen Schuppen, Kellern oder den Räumen der örtlichen Feuerbestattungsvereine, wie z.B. in Konstanz, wo man im Januar 1983 insgesamt 192 solcher Urnen „fand“.

5. Für die nachrichtenlosen Urnen hat sich nach dem Krieg niemand interessiert. Erst Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre erweckten sie an manchen Orten Aufmerksamkeit, wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil die Ruhezeit (die von Kommune zu Kommune unterschiedlich zwischen 15 und 20 Jahren beträgt) abgelaufen war. Danach dürften eine ganze Reihe von städtischen Friedhofsverwaltungen stillschweigend die Gräber abgeräumt und die Sache, an der sie sich durch die informierte Entgegennahme beteiligt hatten, dem Vergessen überantwortet haben. (Auch deswegen ist die Liste der bekannten Adressaten derzeit nicht besonders lang, sie umfasst 20 Städtenamen.[3]) In manchen Städten – wie z.B. in Frankfurt (vgl. https://graeberfeld.copyriot.com) – nahm man zur Kenntnis, dass es sich um die sterblichen Überreste von NS-Opfern handelte und nahm die Urnen 1958 aus den vorherigen Reihen- und Sammelgräbern heraus und bestattet sie neu. Dabei übernahm man für die neuen Grabplatten die auf den Urnendeckeln eingeprägten und auch im Urnenbuch des Hauptfriedhofs Frankfurt aufgeführten Namen und falschen Sterbedaten. Die Angaben wurden bis heute nicht korrigiert.

6. Der häufigste Einwand gegen eine Beschäftigung mit diesem Thema lautet: Warum sich um Urnen kümmern, die nicht einmal die Asche derjenigen enthalten, deren Namen darauf stehen? Tatsächlich ist die gewöhnliche Verbindung Urne – Asche – Leichnam – Körper – Individuum gekappt, es gibt keinen physischen Zusammenhang zwischen der Urne und der Person. Die Urnen sind jedoch mit dem ermordeten Menschen verbunden durch den Tat- und Verschleierungsvorgang. Eine solche Urne erzählt von den Begleitumständen des Todes, den Bemühungen der Täuschung und den Vorgängen in den Tötungsanstalten. Und: Die Namen auf den Urnen sind die von Euthanasieopfern. Daher wäre es falsch, diese Urnen (bzw. die Grabplätze) zu ignorieren. Die Urne ist ein Erinnerungszeichen für denjenigen, dessen Name darauf steht. Allerdings muss dazu die Geschichte der Urnen erzählt werden. Entscheidend ist es, die tatsächlichen Vorgänge – das heißt den wirklichen Tatort, das wahre Sterbedatum, möglicherweise den Aktenversand und die Falschbeurkundung des Sterbeorts – zu rekonstruieren und auf die Urne zu beziehen. Auf eine bestimmte Weise, die sehr viel mit den Umständen dieses Sterbens zu tun hat, ist jede in diesem Kontext vorgefundene Urne mit dem aufgebrachten Namen und dem ermordeten Menschen verbunden.

7. Einige Fragen im Zusammenhang mit der Versendung von Ascheurnen sind ungeklärt. Die wesentlichsten: In welchem Umfang wurden Urnen verschickt und an wie viel verschiedene Städte? Was war das Kriterium, eine Urne – versehen mit dem Namen eines jüngst Ermordeten – an einen städtischen Friedhof zu versenden, unterstellt dass in allen Tötungsanstalten parallel Asche verscharrt wurde?


[1] Vgl. das „Protokoll über die Öffnung von zwei Grabhügeln auf dem Friedhof des Samariterstiftes Grafeneck“ v. 10.5.1962, Staatarchiv Sigmaringen. Im Protokoll wird festgehalten, das davon abgesehen wurde, zu versuchen die Namen zu entziffern und zu notieren.

[2] Vgl. Protokoll des Treffens am 3.4.1940 im Haus des Dt. Gemeindetags in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik Bd. 1. Berlin 1985, S. 33. Zuletzt komplett zitiert in Aly, Götz: Die Belasteten. Frankfurt/Main 2013, S. 50ff.

[3] Die Nennungen sind unterschiedlich gut fundiert, manche gehen nur auf eine Erwähnung in der Literatur zurück und müssen überprüft werden, für andere liegen die kompletten Urnenlisten vor: Frankfurt/Main, Mannheim, Köln, Wiesbaden, Freiburg, Heilbronn, Pforzheim, Offenbach, Wien, Riesa a.d. Elbe, Leipzig, Konstanz, Berlin, Ulm, Hof, Dortmund, Stuttgart, Karlsruhe, München, Braunschweig.