Das Foto über diesem Text zeigt ein Grabfeld des Kalmenhof-Friedhofs im Jahr 1983. Aber inwiefern trifft das zu? Tatsächlich zeigt das Foto eine zugewachsene Hangterrasse hinter einem Gebäude (nicht abgebildet), in dem sich zu diesem Zeitpunkt eine kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtung befand. Kein Friedhof ist zu sehen. Anders gesagt: Gebeine von Opfern der NS-„Euthanasie“ befanden sich 1983 (wie zuvor und danach) unter dem hier abgebildeten Grün, aber das Gräberfeld war mitsamt der Tatgeschichte aus der sozialen Wirklichkeit Idsteins verschwunden.
Dieses Verschwinden ist ein Sinnbild für den verbreiteten Umgang mit den NS-„Euthanasie“-Verbrechen in der Nachkriegszeit, aber es ist nicht ganz leicht der Sache einen Namen zu geben. Verdrängung trifft es nicht, weil verdrängen ein unbewusster Vorgang ist. Rekonstruiert man – soweit das ohne intensive Beteiligung der Bevölkerung Idsteins möglich ist – die drei Jahrzehnte zwischen 1949 und 1979, gewinnt man den Eindruck einer früh einsetzenden erheblichen Betriebsamkeit, mit der das Gewesene – der Alltag im Kalmenhof, dem zwischen 1939 und 1945 über 700 Menschen zum Opfer fielen, die entsprechend zahlreichen Gräber auf drei verschiedenen Idsteiner Friedhöfen – weggearbeitet wurde. Dies bedurfte erheblicher Anstrengung. Zu sprechen wäre daher vom Verschwinden machen, vom Nicht-wissen-wollen.
Verschwunden waren die Toten, war der Friedhof bis 1981. In diesem Jahr reiste der Pfarrer aus dem Ortsteil Wörsdorf mit einer Jugendgruppe der Aktion Sühnezeichen zum Besuch der Gedenkstätte nach Auschwitz. Dort erfuhren sie von ihrem polnischen Guide, dass über die Vernichtungspolitik des NS-Regimes im Grunde auch zuhause etwas zu lernen sei, in Idstein. Zurückgekehrt beschrieb der Pfarrer in einem Brief eine Wirklichkeit, die im öffentlichen Bewusstsein der Stadt und ihrer Bevölkerung nicht existierte (wohl aber hier und da im nichtöffentlichen Bewusstsein).
Zurück zur Fotografie. Das Foto zeigt den zugewachsenen Hang hinter dem Gebäude, es zeigt den Status Quo des Nicht-wissen-wollens. Zugleich ist es bereits ein Dokument der Wiederannäherung an die Wirklichkeit unter der Grasnarbe. Denn das Foto wurde gemacht im Wissen, dass die Erscheinung des Ortes mit seinem ontologischen Status als Friedhof nicht übereinstimmt: Es ist selbst Teil eines Prozesses, der zwei Jahre zuvor vom Schreiben des Pfarrers angestoßen wurde. An dessen Ende stand 1987 ein Mahnmal und der Ausweis einer Fläche von 42 mal 6 Metern auf diesem Hang als Kriegsgräberstätte, das meinte: als Kalmenhof-Friedhof.
Gäbe es nicht mehr zu erzählen, entspräche das in etwa dem erinnerungspolitischen Masternarrativ: Die spät noch einsetzende Aufklärung über die NS-Verbrechen mündete in eine angemessene Gedenkkultur. So einfach aber löst sich die Geschichte nicht auf.