Die Überlebenden der NS-„Euthanasie“ blieben viele Jahrzehnte unsichtbar. In diesem Faktum spiegelt sich der Umgang mit der Tat, mit den Tatbeteiligten und ihren Opfern. Die „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten blieben ohne rechtliche Anerkennung. Gemäß Bundesentschädigungsgesetz (BEG) sind sie keine Opfer des Nationalsozialismus. Auch wenn viele Jahre Kampagnenarbeit inzwischen Ausgleichs- und Einmalzahlungen erkämpft haben, bleibt die Symbolkraft der Nichtaufnahme unter die gesetzlichen Opfergruppen bestehen.

Die Zeitgeschichtsschreibung hat sich sehr spät erst mit der NS-„Euthanasie“ befasst. In den ersten umfassenden Darstellungen der 1980er Jahre steht die Tat und die Vorgehensweise der Tatbeteiligten im Mittelpunkt. Die akademische Historiografie hat sich nach diesen initialen Forschungsarbeiten (die von „Außenseitern“ stammen) in den folgenden 30 Jahren von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen kaum auf Opferzeugnisse eingelassen. Auch das ein Grund, warum es für die verbliebenen Überlebenden der NS-„Euthanasie“ oder die Angehörigen der Opfer fern lag, doch noch Zeugnis abzulegen: Signale, dass die Gesellschaft an dergleichen interessiert war, blieben aus. Sehr klein ist daher die Zahl der öffentlich zugänglichen Äußerungen von Überlebenden der NS-„Euthanasie“. Ebenso selten sind Berichte von Angehörigen Ermordeter.

Das ist kein unglücklicher Umstand, kein historischer Zufall. Es sind die aus dem Status des Anstaltspatienten / der Anstaltspatientin hervorgehenden Zuschreibungen begrenzter Ausdrucksfähigkeit und verminderter Glaubwürdigkeit, die es erschwert bzw. verhindert haben, dass Überlebende der NS-„Euthanasie“ in der Öffentlichkeit Gehör fanden. Diese Entwicklung lässt sich heute nicht mehr umkehren oder korrigieren. Jedoch bergen insbesondere die Ermittlungsakten der frühen Verfahren in Hessen aus den Jahren 1946-1948 eine ganze Reihe tatzeitpunktnaher Beschreibungen und Erzählungen. Im Mittelpunkt stehen Geschehnisse in den Anstalten Hadamar, Kalmenhof und Eichberg.

Das jüngst erschienene Buch Hadamar von innen versammelt Überlebendenzeugnisse und Angehörigenberichte. Die Texte wurden transkribiert und annotiert sowie mit einer ausführlichen Einleitung versehen. Komplettiert wird der Band durch einen Essay über das Hadamar-Verfahren, im Zuge dessen unter anderem auch diese Dokumente zusammengeführt und aufbewahrt wurden.

Christoph Schneider (Hg.):
Hadamar von innen. Überlebendenzeugnisse und Angehörigenberichte

Berlin (Metropol Verlag) 2020.
Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur, Band 10
257 Seiten. Print 19,00 Euro, E-Book/PDF 15,00 Euro.
ISBN: 978-3-86331-552-8

Der Livestream der Buchvorstellung vom 17. Dez., 19:00 Uhr ist hier zu finden: https://youtu.be/ZRmY-upPSjM