Johanna (geb. 8.7.1921), Mathilde (geb. 28.10.1922) und Maria Dendel (geb. 12.11.1923) lebten ab 1938 im Kalmenhof. Die Geschwister waren zuvor – seit März 1935 – im Gertrudisheim in Wetzlar untergebracht gewesen. Johanna wurde bereits im April 1937 nach Idstein verlegt, die beiden Schwestern folgten am 28. April 1938.

Johanna Dendel wurde im Oktober 1942 weiter nach Scheuern verlegt und von dort knapp zwei Jahre später nach Hadamar, wo sie nach wenigen Tage, am 18. September 1944, ermordet wurde. Mathilde war bis über das Kriegsende hinaus im Kalmenhof, wurde 1946 nach Köppern verlegt, wo sie Mitte des Jahres entlassen wurde. Maria Dendel wurde im Zuge der „Aktion T4“ im Kalmenhof selektiert und am 14. März 1941 in einem größeren Transport nach Hadamar gebracht und ermordet.

Die Familie Dendel aus Herdorf wurde vom nationalsozialistischen Staat in extremer Weise verfolgt. Zwei weitere Angehörige – Martha Dendel (geb. 4.7.1908) und Paula Dendel (geb. 11.12.1909) – wurden ebenfalls im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet. Zudem wurden Ernst (geb. 7.12.1912) und Martha Dendel, geborene Klimek (geb. 9.10.1911) zwangssterilisiert.

Diese Zusammenhänge wurden von Carsten Trojan, Architekt in Herdorf, ans Licht gebracht. Seiner regionalgeschichtlichen Forschung ist es zu verdanken, dass der rassebiologische Angriff auf die Familie Dendel publik geworden ist und dem Städtchen zur Kenntnis gelangte. Ende Oktober 2020 wurden vor vier Häusern in Herdorf insgesamt 12 Stolpersteine für Opfer der NS-„Euthanasie“ verlegt, so auch in der Hellerstraße 17 für die Mitglieder der Familie Dendel.

Es ist bezeichnend, dass nicht Einrichtungen an den Tatorten Hadamar und Idstein die Zusammenhänge hergestellt und diese (Familien-)Geschichte erzählt haben. Dort wurde in den vergangenen Dekaden so gut wie gar nicht zu Opferbiografien geforscht. Die Gedenkstätte Hadamar hatte seit ihrer Gründung 1983 bis vor kurzem nie eine wissenschaftliche Mitarbeiterstelle, sondern nur Stellen für Leitung, Büro und Pädagogik. Der Leiter der Gedenkstätte, Georg Lilienthal, hat, parallel zu dieser Verpflichtung, lange Jahre die täterorientierte Forschung vorangetrieben. Im Kalmenhof gibt es seit 1987 ein Mahnmal, jedoch keine adressierbare Stelle, die die NS-Geschichte der Einrichtung erkundet hat und Auskünfte geben könnte.

Detaillierte Rekonstruktionen von Opferbiografien, von familiären und lokalen Zusammenhängen wurden in aller Regel von unentgeltlich arbeitenden Lokal- und Regional-historiker*innen geleistet. Sie sind es, die die Namen von „Euthanasie“-Opfern in ihren ehemaligen Heimatorten noch einmal ins Gespräch bringen. Die Verlegung von Stolpersteinen ist dann ein gern gewähltes Mittel, damit es nicht bei einem Artikel in der Lokalpresse bleibt. Und so werden zunehmend Stolpersteine auch für Opfer der NS-„Euthanasie“ verlegt, was lange Jahre nicht der Fall war. Abermals folgt eine Praxis der Erinnerung an diese Opfergruppe dem allgemeinen Umgang mit NS-Opfern mit zeitlicher Verzögerung. Umgekehrt bedeutet dies, dass zunächst niemand an diese Menschen dachte, dass sie im Allgemeinen nicht selbstverständlich enthalten waren.

Vielerorts wirkt sich das auch praktisch aus: Im Rahmen der Stolpersteinverlegung in Herdorf wurden die Kerndaten der Verfolgung für jede Person – Geburtsdatum, Datum der Einweisung, Verlegedatum, Transport- und Sterbedatum – vorgelesen und in einem Flyer zugänglich gemacht:

Es handelt sich um Daten aus Täterdokumenten, die sich heute in Archiven befinden. Es war offenkundig nicht möglich darüber hinaus, aus lokalen, das heißt nicht archivgebundenen Überlieferungen kleine Berichte, Erzählungen oder Episoden hinzuzufügen. Das Vergessen währte so lange und war so gründlich, dass vor Ort heute niemand mehr etwas vom Leben der Dendels zu erzählen weiß.

Die Geschichte der Stolpersteine ist eine Erfolgsgeschichte. Inzwischen wurden landauf, landab über 75Tsd. dieser Steine verlegt. Offenkundig lässt sich mit ihnen einem Bedürfnis Ausdruck verleihen. Die oftmals mühseligen Recherchen der Regionalforscher*innen münden in etwas Bleibendes. Gleichzeitig ist die öffentliche Erscheinung der Steine so dezent, dass all jene, die die mentalen Dispositionen des Nationalsozialismus wie auch die Handlungslogiken der NS-„Euthanasie“ als erledigt betrachten, keinen Anstoß nehmen müssen: Die Steine mit den Inschriften werden niveaugleich ins Pflaster eingelassen und verfugt, niemand muss darüber stolpern.

Ob die Verfolgungsgeschichten der Familie Dendel wie auch die der anderen „Euthanasie“-Opfer zu weiteren Fragen Anlass geben oder ob die frisch verlegten Stolpersteine primär als Ausweis dienen, dass eine Beschäftigung mit dem NS-Terror vor Ort stattgefunden hat, entscheidet sich in den Jahren nach der Verlegung.